Die Macht der Mythen

Manchmal gibt es Texte, die auf eine Art und Weise geschrieben sind, an der ich als Leser verzweifeln könnte. Ich halte es für eine große Kunst, komplizierte Sachverhalte verständlich darzustellen und bin immer begeistert, wenn ich Texte von Autor*innen lese, die genau das beherrschen.
Gelegentlich kommt es vor, dass ich einen Text lese und mich nicht imstande sehe, ihn irgendwie zu verbessern. Was immer ich durch eigene Formulierungen ersetzen würde, wäre unverständlicher als das Original. Genau so erging es mir, als ich „Eine kurze Geschichte des Mythos“ von Karen Armstrong las. Der folgende Text ist deshalb der stark gekürzte Originalwortlaut ihres Buchs, das ich allen empfehle, die einen hervorragend recherchierten und verständlich aufgebauten Einstieg in das große Gebiet der Mythologie suchen.

Was ist ein Mythos?

Wir Menschen sind sinnsuchende Lebewesen und geraten leicht in Verzweiflung, und so haben wir von Anfang an Geschichten erfunden, die unser Leben in einen größeren Zusammenhang stellen, ein Grundmuster erkennen lassen und uns das Gefühl vermitteln, dass das Leben Wert und Sinn habe.
Außerdem besitzen wir die Kraft der Imagination, eine Gabe, die uns befähigt, etwas zu denken, das nicht unmittelbar präsent ist und objektiv nicht existiert, wenn wir es uns zum ersten Mal vorstellen. Imagination ist die Fähigkeit, die Religion und Mythologie hervorbringt.
Heute ist mythisches Denken in Verruf geraten; häufig tun wir es als irrational und maßlos ab. Andererseits befähigt ausgerechnet die Imagination Wissenschaftler dazu, neue Erkenntnisse zu gewinnen und auf dem Mond zu landen – Leistungen, die früher nur im Reich der Mythen möglich waren.
Die Mythologie erweitert den Horizont des Menschen ebenso wie die Wissenschaft. Sie befasst sich nicht mit einem Ausstieg aus dieser Welt, sondern ebenso wie Wissenschaft und Technik mit Möglichkeiten, wie wir intensiver in ihr leben können.

Schon die Neandertaler, die ihre Angehörigen mit großer Sorgfalt beerdigten, haben uns Gräber hinterlassen, die uns fünf wichtige Dinge über Mythen zeigen:

  1. Sie entstehen fast immer durch die Erfahrung des Todes und der Angst vor Auslöschung.
  2. Mythologie ist in der Regel untrennbar mit Ritualen verbunden. Außerhalb dieser Rituale ergeben viele Mythen keinen Sinn.
  3. Die stärksten Mythen befassen sich mit Extremen, sie zwingen uns, über unsere Erfahrungen hinauszugehen. Mythen handeln vom Unbekannten, von Dingen, für die wir anfangs keine Worte haben.
  4. Ein Mythos ist keine Geschichte, die um ihrer selbst willen erzählt wird. Sie zeigt uns, wie wir uns verhalten sollen. Richtig verstanden, versetzt uns Mythologie in die geeignete spirituelle oder psychische Haltung, um in dieser oder der nächsten Welt korrekt zu handeln.
  5. Jede Mythologie spricht von einer anderen Ebene, der Welt der Götter, die neben unserer Welt existiert und sie in gewisser Weise trägt. Jede irdische Realität ist nur ein blasser Abglanz ihres Archetyps, eine unvollkommene Kopie des Originals.

Mythen verliehen einer Realität, die die Menschen intuitiv spürten, Form und Gestalt. Anfangs wurde zwischen der Welt der Götter und der Welt der Menschen überhaupt nicht unterschieden. Wenn Leute vom Göttlichen sprachen, meinten sie damit meist einen Aspekt des Irdischen.
Generell diente die Mythologie also dazu, Menschen zu helfen, ihren Platz in der Welt und die richtige Orientierung zu finden. Wir alle möchten wissen, woher wir kommen, wohin wir gehen und möchten jene erhabenen Momente erklären, in denen wir über unsere alltäglichen Sorgen hinausgetragen werden. Die „ewige Philosophie“ ist Ausdruck unseres Gefühls, dass der Mensch und die materielle Welt mehr sind als ihr äußeres Erscheinungsbild.

Heute nutzt man das Wort „Mythos“ häufig, um auszudrücken, dass etwas schlicht nicht wahr ist und jeder Grundlage entbehrt. Seit dem 18. Jahrhundert haben wir eine wissenschaftliche Sicht der Geschichte entwickelt; uns interessiert in erster Linie, was tatsächlich geschah. Wenn Menschen in der vormodernen Welt über die Vergangenheit schrieben, interessierten sie sich mehr dafür, was ein Ereignis bedeutete.
Ein Mythos schilderte ein Ereignis, das sich gewissermaßen einmal zugetragen hatte, zugleich aber ständig passierte. Wegen unserer strikt chronologischen Geschichtssicht haben wir kein Wort für ein solches Geschehen, aber Mythologie ist eine Kunstform, die über die Geschichte hinaus auf das Zeitlose der menschlichen Existenz verweist und uns hilft, jenseits des chaotischen Flusses zufälliger Ereignisse den Kern der Wirklichkeit zu erfassen.

Es wäre also sehr einseitig, Mythen als niedere Denkweisen anzusehen, auf die man verzichten könne, wenn Menschen das Zeitalter der Vernunft erreicht haben. Die Mythologie stellt keinen frühen Versuch der Geschichtsforschung dar und nimmt auch nicht für sich in Anspruch, in ihren Erzählungen objektive Tatsachen zu schildern.

In der Kunst, die frei ist von den Zwängen der Vernunft und Logik, ersinnen und kombinieren wir neue Formen, die unser Leben bereichern und uns, wie wir glauben, etwas Wichtiges und tiefgründig „Wahres“ sagen. Auch in der Mythologie verfolgen wir eine Hypothese, lassen sie mit Hilfe von Ritualen lebendig werden und handeln danach.
Ein Mythos ist also wahr, weil er wirkt, nicht weil er uns faktische Informationen liefert. Vermittelt er uns keine neuen Einsichten in den tieferen Sinn des Lebens, so hat er versagt. So lange er jedoch wirkt, besitzt er Geltung. Mythologie verändert uns nur, wenn wir ihren Anweisungen folgen. Ein Mythos ist im Grunde eine Richtschnur; er sagt uns, was wir tun müssen, um ein erfüllteres Leben zu führen.

Unsere moderne Entfremdung von Mythen ist in der Geschichte beispiellos. In der vormodernen Welt war Mythologie unverzichtbar. Sie half den Menschen nicht nur, ihrem Leben Sinn zu verleihen, sondern eröffnete auch Zugang zu Regionen des menschlichen Geistes, die ansonsten unzugänglich geblieben wären. Sie stelle damit eine Frühform der Psychologie dar. Die Kämpfe des Helden in der Unterwelt brachten die mysteriösen Vorgänge der Psyche ans Licht und zeigten den Menschen, wie sie mit ihren inneren Krisen umgehen konnten.

Kein Mythos existiert nur in einer einzigen orthodoxen Version. In dem Maße, wie unsere Lebensumstände sich ändern, müssen wir unsere Geschichten anders erzählen, um ihre zeitlose Wahrheit zum Vorschein zu bringen. Das haben wir Menschen bisher immer getan – allerdings hat sich die menschliche Natur auch nicht sonderlich verändert. Viele Mythen aus Gesellschaften, die von der unseren kaum weiter entfernt sein könnten, sprechen nach wie vor unsere grundlegendsten Ängste und Wünsche an.

Altsteinzeit (Paläolithikum): Mythologie der Jäger

In der Altsteinzeit (um 20.000 bis 8.000 v. Chr.) fand die biologische Evolution des Menschen ihren Abschluss. Sie gehört zu den längsten und prägendsten der Menschheitsgeschichte. In vieler Hinsicht war das auch eine beängstigende und verzweifelte Epoche – die Menschen der Frühzeit hatten noch keinen Ackerbau entwickelt und waren vollständig auf Jagen und Sammeln angewiesen. Für ihr Überleben war die Mythologie genauso wichtig wie die Jagdwaffen, um ein gewisses Maß an Kontrolle über ihre Umwelt zu erlangen.
Bei Völkern wie den Pygmäen oder den australischen Aborigines, die keine Ackerbaurevolution durchgemacht haben, ist es selbstverständlich, in Mythen und Symbolen zu denken, weil sie ein ausgeprägtes Bewusstsein für die spirituelle Dimension ihres Alltagslebens besitzen.

Das Erleben des Heiligen oder Göttlichen wird in diesen Kulturen als etwas Selbstverständliches empfunden. Die „Traumzeit“, die z. B. in Visionen erlebt wird, ist zeitlos, stets präsent und bildet den dauerhaften Hintergrund des Alltagslebens. In der Traumzeit leben die Ahnen – mächtige, archetypische Wesen, die die Menschen lebenswichtige Fertigkeiten lehrten wie Jagen, Kämpfen, Sexualität, Weben und Korbflechten. Daher galten solche Tätigkeiten auch nicht als profan, sondern als sakrale Akte, durch die man eine Verbindung zur Traumzeit herstellte.

Heute trennen wir Religiöses und Profanes. Das wäre für die Jäger der Altsteinzeit völlig unvorstellbar gewesen. Für uns Menschen der Moderne ist ein Symbol im Grunde von der unsichtbaren Realität losgelöst, auf die es unsere Aufmerksamkeit richtet, aber das griechische Wort symballein bedeutet „zusammenwerfen“: zwei bis dahin getrennte Dinge verbinden sich unzertrennlich – sozusagen wie Gin und Tonic in einem Cocktail. Betrachtete man einen irdischen Gegenstand, befand man sich daher in Gegenwart seines himmlischen Gegenstücks.

Die paläolithische Mythologie war von großer Achtung vor den Tieren geprägt, die der Mensch sich zu töten gezwungen sah, um selbst überleben zu können. Noch heute sprechen viele indigene Völker von „Leuten“, wenn sie Tiere meinen. Sie erzählen Geschichten von Menschen, die zu Tieren wurden, und umgekehrt. Dennoch hing das Überleben der Menschen davon ab, andere Lebewesen zu töten, denen sie sich eng verbunden fühlten. Angesichts dieses potenziell unerträglichen Dilemmas schufen sie Mythen und Rituale, die es ihnen ermöglichten, mit dem Mord an ihren Mitgeschöpfen umzugehen.
Die erste Hochblüte erlebte die Mythologie also zu einer Zeit, als aus dem Homo sapiens der Homo necans, der „tötende Mensch“ wurde, der Schwierigkeiten hatte, seine Existenzbedingungen in einer gewaltgeprägten Welt zu akzeptieren.

Häufig entspringt Mythologie tiefen Ängsten, die sich im Grunde auf praktische Probleme beziehen und sich durch rein logische Argumente nicht besänftigen lassen. Bereits in seinem Frühstadium entwickelte der Mensch das, was die Griechen Logos nannten, jene logische, pragmatische und wissenschaftliche Denkweise, die ihm ein erfolgreiches Funktionieren in der Welt ermöglichte.
Im Gegensatz zum Mythos muss der Logos den objektiven Fakten entsprechen. Während der Mythos zurückblickt auf die imaginäre Welt des sakralen Archetyps oder auf ein verlorenes Paradies, ist der Logos nach vorn gerichtet, versucht ständig, Neues zu entdecken und eine größere Kontrolle über die Umwelt zu erlangen. Instinktiv begriff der Mensch daher von Anfang an, dass Mythos und Logos unterschiedliche Aufgaben erfüllten. Er nutzte den Logos, um neue Waffen zu entwickeln und den Mythos mit den damit verbundenen Ritualen, um sich mit den tragischen Fakten des Lebens zu versöhnen.

In der vor- und frühgeschichtlichen Religion spielten auch Initiationszeremonien eine zentrale Rolle und besitzen bis heute in traditionellen Gesellschaften einen hohen Stellenwert. In Stammesgesellschaften entreißt man noch heute heranwachsende Jungen ihren Müttern, trennt sie von der Gemeinschaft und zwingt sie, sich einer Prüfung zu unterziehen, die sie zu Männern machen soll. Dabei handelt es sich um einen Prozess des Todes und der Wiedergeburt. Nach dieser Prüfung hat der Junge gelernt, dass der Tod ein Neubeginn ist. Er kehrt körperlich und seelisch als Mann in seine Gemeinschaft zurück.
In Extremsituationen ist also Mythologie der Diskurs, den wir brauchen. Wir müssen vorbereitet sein, um zuzulassen, dass ein Mythos uns für immer verändert. Einen Mythos ohne das mit ihm verbundene Transformationsritual zu lesen, ist sinnlos.

Die paläolithische Mythologie und die mit ihr verbundenen Rituale half Menschen der Altsteinzeit, beim Übergang von einem Lebensstadium in ein anderes, so dass sie den Tod schließlich als letzte und endgültige Initiation in eine andere, völlig unbekannte Daseinsform sahen. Diese frühe Erkenntnis diente als Orientierung bei der nächsten großen Revolution der Menschheitsgeschichte.

Jungsteinzeit (Neolithikum): Mythologie der Bauern

In der Jungsteinzeit (etwa 8.000 bis 4.000 v. Chr.) erfanden die Menschen den Ackerbau. Sie entdeckten, dass die Erde eine offenbar unerschöpfliche Nahrungsquelle war. Kaum eine Entwicklung war für die Menschheit bedeutender als die neolithische Revolution mit dem Übergang vom Jagen und Sammeln zu Ackerbau und Viehzucht. Dies ging mit einer großen spirituellen Erweckung einher, die den Menschen ein völlig neues Verständnis ihrer selbst und ihrer Welt brachte. Die Feldfrüchte wurden zur Offenbarung einer göttlichen Energie und die Erde schien alle Lebewesen – Pflanzen, Tiere und Menschen – zu ernähren wie ein lebendiger Mutterleib.

Rituale sollten diese Kraft erneuern, damit sie sich nicht erschöpfte (zum Beispiel durch Opfern einiger Samen). Diesen Riten lagen zwei Prinzipien zugrunde: Zum einen konnte man nicht erwarten, etwas umsonst zu bekommen; wer bekommen wollte, musste etwas dafür geben. Zum anderen herrschte eine holistische Sicht der Wirklichkeit. Götter, Menschen, Tiere und Pflanzen waren Teil derselben Natur und konnten sich daher gegenseitig stärken und erneuern. Hatten sich die Menschen früher vorgestellt, in die Höhen aufzusteigen, um dem Göttlichen zu begegnen, so stellten sie nun rituellen Kontakt zum Heiligen in der Erde her. Die in dieser Zeit entstehenden Mythen lehrten die Menschen, dass sie der Erde ebenso angehörten wie Steine, Flüsse und Bäume und daher ihren natürlichen Rhythmus respektieren mussten.

Mythische Vorstellungen werden unweigerlich immer konkreter und ausführlicher; was ursprünglich amorph war, nimmt Gestalt und spezifische Züge an. Wie die Verehrung des Himmels früher zur Personifizierung des Himmelsgottes führte, entwickelte sich aus der mütterlichen, nährenden Erde die Muttergöttin.
Nochmal: Das hat nichts mit Eskapismus, mit einer Flucht aus der Realität zu tun! Die neuen neolithischen Mythen zwangen die Menschen auch weiterhin, sich der Realität des Todes zu stellen – in der frühen Mythologie ist die Landwirtschaft von Gewalt durchdrungen, Nahrung wird in einem ständigen Kampf gegen die heiligen Kräfte des Todes und der Zerstörung produziert.

In den Heldenmythen der Altsteinzeit ging meist ein männlicher Held auf eine gefahrvolle Reise, um seinem Volk Hilfe zu bringen. Nach der neolithischen Revolution sind die Männer häufig hilflos und passiv. Nun begibt sich die Göttin auf eine Suche in die Welt hinaus, ringt mit dem Tod und bringt den Menschen Nahrung.
Auch in der Jungsteinzeit halfen Mythen und Übergangsrituale den Menschen, ihre Sterblichkeit zu akzeptieren, in das nächste Stadium einzutreten und den Mut zu Veränderung und Wachstum aufzubringen.

Die Achsenzeit

Der Philosoph Karl Jaspers bezeichnete das Zeitalter zwischen 800 und 200 v. Chr. als Achsenzeit, weil es sich als Dreh- und Angelpunkt der spirituellen Menschheitsentwicklung erwies; von den in dieser Zeit gewonnenen Erkenntnissen zehren die Menschen bis heute. Sie markiert den Beginn der Religion, wie wir sie kennen.
Die Menschen wurden sich mit bis dahin ungeahnter Klarheit ihrer Natur, ihrer Situation und ihrer Grenzen bewusst. Neue Religionen und philosophische Systeme entstanden: In China Konfuzianismus und Taoismus, in Indien Buddhismus und Hinduismus, im Nahen Osten der Monotheismus und in Europa der griechische Rationalismus.

Die Achsenbewegungen zeigten ein neues Interesse an individuellem Bewusstsein und Moral. Daher genügte es ihnen nicht, die konventionellen Riten genauestens zu befolgen; Gläubige sollten auch ihre Mitgeschöpfe mit Respekt behandeln. Alle Weisen schreckten vor der Gewalt ihrer Zeit zurück und predigten eine Ethik des Mitgefühls und der Gerechtigkeit. Sie lehrten ihre Anhänger, die Wahrheit in sich selbst zu suchen und nicht auf die Lehren von Priestern und anderen Religionslehrern zu vertrauen.

In Griechenland war die Achsenzeit geprägt vom logos („Vernunft“), der auf einer anderen geistigen Ebene wirkte als der Mythos. Platon war davon überzeugt, dass Mythen die irrationale Seite der Seele nährten, und dass die Menschen nur durch den Logos ihre Möglichkeiten auszuschöpfen vermochten. Aristoteles stimmte mit Platon überein und fand die alten Mythen unverständlich. Offenbar hatte das Studium der Philosophie eine Kluft zwischen Mythos und Logos bewirkt, die sich bis dahin ergänzt hatten. Obwohl Platon nicht viel für den Mythos übrig hatte, gestand er ihm eine wichtige Rolle bei der Erforschung von Ideen zu, die jenseits philosophischer Sprache liegen.
Im westlichen Denken herrschte also ein Widerspruch. Der griechische Logos schien der Mythologie zu widersprechen, aber Philosophen verwendeten weiterhin Mythen, die sie entweder als primitive Vorläufer rationalen Denkens oder als unverzichtbar für einen religiösen Diskurs hielten.

Das Post-Achsenzeitalter

Nach der Achsenzeit gab es über ein Jahrtausend hinweg (200 v. Chr. – 1500 n. Chr.) kein vergleichbares Zeitalter des Umbruchs. Die drei monotheistischen Glaubensrichtungen Judentum, Christentum und Islam nahmen für sich in Anspruch, zumindest teilweise historische, nicht mythische Grundlagen zu besitzen. Ihre Anhänger glaubten, dass ihr Gott aktiv in die Geschichte eingreife und in tatsächlichen Ereignissen dieser Welt zu erfahren sei.

Im elften und zwölften Jahrhundert entdeckten die Christen Westeuropas die Werke Platons und Aristoteles‘. Zur gleichen Zeit, als Juden und Muslime sich von dem Versuch verabschiedeten, ihre Mythologie zu rationalisieren, stürzten sich westliche Christen mit einer Begeisterung, die sie nie vollständig verlieren sollten, in diese Aufgabe. Damals begannen sie, den Bezug zur Bedeutung der Mythen zu verlieren. Vielleicht ist es daher nicht verwunderlich, dass die nächste große Transformation der Menschheitsgeschichte, die den Menschen mythisches Denken erheblich erschweren sollte, ihren Ursprung in Westeuropa hatte.

Die große westliche Transformation

Im 16. Jahrhundert begann die westliche Moderne – und die potenziell katastrophale Folge dieses neuen Experiments war der Tod der Mythologie. Die westliche Moderne war ein Kind des Logos. Der lange Modernisierungsprozess Europas beinhaltete eine intellektuelle „Aufklärung“, die Mythen als nutzlos, falsch und überlebt abtat. Die westlichen Errungenschaften setzten auf den Triumph des pragmatischen und wissenschaftlichen Geistes. Effizienz lautete die neue Parole. Die Helden der westlichen Moderne waren technische oder wissenschaftliche Genies des Logos, keine vom Mythos inspirierten spirituellen Genies.

Doch der Logos hatte den Menschen noch nie das Gefühl von Sinn vermitteln können, das sie offenbar brauchten. Mythen hatten dem Leben Struktur und Sinn verliehen, aber in dem Maße, wie die Modernisierung fortschritt und der Logos so spektakuläre Ergebnisse erzielte, geriet die Mythologie zunehmend in Verruf. Bereits im 16. Jahrhundert mehrten sich Anzeichen einer dumpfen Verzweiflung, einer schleichenden mentalen Lähmung und eines Gefühls der Ohnmacht und Wut, als die alte mythische Denkweise bröckelte und nichts Neues an ihre Stelle trat.

Paradoxerweise erlebte das Zeitalter der Vernunft einen Ausbruch von Irrationalität. Der große Hexenwahn im 16. und 17. Jahrhundert war eine kollektive Dämonenfantasie und zeigte, dass der wissenschaftliche Rationalismus die dunkleren Kräfte der Seele nicht immer in Schach zu halten vermochte. Die Menschen glaubten alles Mögliche über diese angeblichen Hexen. Da ihnen eine starke Mythologie fehlte, um ihre unbewussten Ängste zu erklären, versuchten sie, diese zu „Fakten“ zu rationalisieren.
Angsterfüllte, destruktive Unvernunft gehörte schon immer zum menschlichen Erleben, und das hat sich bis heute nicht geändert.

Hat Mythologie eine Zukunft?

Mythisches Denken und mythische Praxis halfen den Menschen, sich der Aussicht auf Auslöschung und Nichts zu stellen und sich gewissermaßen damit abzufinden. Das 20. Jahrhundert brachte uns eine nihilistische Ikone nach der anderen, aber viele der extravaganten Hoffnungen der Moderne und der Aufklärung erwiesen sich als falsch.
Der Abwurf der ersten Atombomben über Hiroshima und Nagasaki legte den Keim nihilistischer Selbstzerstörung frei, der im Inneren der modernen Kultur schlummert und der Angriff auf das World Trade Center zeigte, dass die Errungenschaften der Moderne – Technologie, Reisefreiheit und globale Kommunikation – sich als Instrumente des Terrors einsetzen lassen.

In keiner anderen Kultur würde ein Mensch mitten in einem Übergangsritus oder einer Initiation verharren, ohne dass eine Lösung für den Schrecken erreicht wäre. Aber genau dazu sind wir heute ohne eine tragfähige Mythologie gezwungen. Rein lineare, logische und historische Denkweisen halten viele von uns von Mitteln und Wegen ab, die es Menschen ermöglichen, die Ressourcen ihrer Menschlichkeit voll auszuschöpfen, um mit dem Inakzeptablen zu leben.

In materieller Hinsicht mögen wir Fortschritte gemacht haben, aber spirituell sind wir nicht über die Achsenzeit hinausgekommen. Vielleicht haben wir durch unsere Unterdrückung des Mythos sogar Rückschritte gemacht.

Noch immer suchen wir Helden – und finden sie in Popstars und zweifelhaften Promis. Diese Idolisierung hat allerdings etwas Unausgewogenes. Der Heldenmythos zielte nicht darauf ab, uns Ikonen der Bewunderung zu liefern, sondern das Heldentum in jedem von uns zugänglich zu machen. Der Mythos muss zur Nachahmung oder Teilhabe führen, nicht zum passiven Konsum. Wir verstehen es nicht mehr, unser mythisches Leben so zu gestalten, dass es uns spirituell herausfordert und verändert.
Dennoch können wir eine verständigere Einstellung zur Mythologie einnehmen. Wir sind mythenschaffende Lebewesen und haben im 20. Jahrhundert einige äußerst destruktive moderne Mythen erlebt, die in Massakern und Völkermord endeten.

Mythen, die nicht von Achtung vor der Heiligkeit allen Lebens getragen sind, können wir nicht allein mit Vernunft begegnen, weil der unverwässerte Logos mit derart tief verwurzelten Ängsten, Begierden und Neurosen nicht umzugehen vermag. Das ist die Aufgabe einer ethisch und spirituell geprägten Mythologie.

  • Wir brauchen Mythen, die uns helfen, uns mit allen Mitmenschen zu identifizieren, nicht nur mit den Angehörigen unseres ethnischen, nationalen oder ideologischen Stammes.
  • Wir brauchen Mythen, um die Bedeutung der Mitmenschlichkeit zu erkennen, die in unserer pragmatischen Welt nicht immer als ausreichend produktiv gilt.
  • Wir brauchen Mythen, die einen transzendenten Wert erleben lassen, der unsere Selbstsucht in Frage stellt, und die uns zu einer spirituellen Einstellung verhelfen, damit wir über unsere unmittelbaren Bedürfnisse hinausschauen können.

Wir brauchen Mythen, die uns helfen, die Erde wieder als heilig zu achten, statt sie nur als Ressource zu benutzen. Denn wenn es nicht zu einer spirituellen Revolution kommt, die mit unserem technologischen Erfindungsgeist Schritt zu halten vermag, werden wir unseren Planeten nicht retten.

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