Recherche in der Erzählkunst

von Zalka Csenge Virág
Übersetzung: Kathinka Marcks (mit herzlichen Dank für die Erlaubnis);
Originalartikel: „Girl in the chair: Seven blind queens raise a child in prison“

Zalka Csenge Virág ist eine Erzählerin und Forscherin aus Ungarn. Sie studierte Archäologie und Storytelling (MA) und promovierte in Kulturwissenschaften. Traditionelle Geschichten wie folktales, Epen und Mythen sind ihr bevorzugtes Geschichtengenre. Außerdem hat sie bereits mehrere Bücher auf Ungarisch und Englisch veröffentlicht (die wir sehr empfehlen können), z. B. Tales of Superhuman Powers (McFarland 2013) oder Dancing on Blades (Parkhurst Brothers 2018). Wenn sie nicht auf internationalen Festivals unterwegs ist, arbeitet sie als Erzählerin für die Világszép Stiftung für Kinder in staatlicher Obhut.

Je länger und ernsthafter man sich als Erzähler*in mit Geschichten und dem Erzählen der Geschichten beschäftigt, desto häufiger und manchmal auch schmerzhaft erfährt man, wie wichtig es ist, die Hintergründe der Geschichten zu kennen. Auf einmal erschließen sich dunkle Flecken, die man zuvor noch nicht einmal bemerkt hat.
Es ist nicht nur hilfreich, eine Geschichte einem Typus zuordnen zu können – auch woher oder aus welcher Zeit die Geschichte stammt, kann enorm zum eigenen Verständnis beitragen. Kann ich die Geschichte überhaupt verstehen, wenn ich die Kultur kaum kenne, in der sie „geboren“ wurde? Und wann tappe ich in die Falle der kulturellen Aneignung? Je mehr ich aus dem literarischen Fundus schöpfe, desto wichtiger wird die Frage danach, wer die Rechte über eine Geschichte hat und ob ich Tantiemen dafür zahlen muss.

Recherche ist unglaublich zeitaufwendig, aber macht auch viel Spaß – vorausgesetzt man findet etwas.
Zalka Csenge Virág zeigt Werkzeuge, die enorm dabei helfen, sich in der Unendlichkeit der Geschichten einen Weg zu bahnen. Wir freuen uns über ihre Erlaubnis, ihren Blogbeitrag zu übersetzen!

In ihrer Blogserie „Girl in the Chair: Research for Storytellers“ nimmt Csenge Recherchefragen an und bildet die Suche nach der Antwort exemplarisch ab. Unter den via Blog, Facebook oder E-Mail eingesandten Anfragen wählt Csenge die interessantesten aus und stellt den Prozess der Recherche dar.

Girl in the chair:
Sieben blinde Königinnen ziehen gemeinsam ein Kind im Gefängnis groß

Die Frage

Bei einem Erzählworkshop in Berlin wurde ich nach einem Volksmärchen gefragt, in dem „sieben blinde Königinnen zusammen ein Kind im Gefängnis großziehen“.
Tatsächlich, diese Geschichte existiert. In mehr als einer Version.

Erster Schritt:

Wo hatte ich davon bereits gelesen?
Ich hätte schwören können, dass ich eine Version davon in einer spanischen Sammlung von Folktales (Volksmärchen, Sagen) gelesen hatte, aber als ich sie durchblätterte, fand ich nirgendwo blinde Königinnen. Ich ging zwei andere spanische Märchenbücher vom gleichen Verlag durch (die Siruela Folktales Serie hat sehr farbenprächtige Umschläge und die Erinnerung an Gelesenes ist bei mir meist visuell geprägt). Ich hatte kein Glück. Manchmal spielt mir mein Gedächtnis einen Streich.
Schließlich erinnerte ich mich, dass ich die Geschichte von Bierhorsts Lateinamerikanischen Volksmärchen kenne, von der Spanischen Ausgabe. Ich lag also nicht ganz falsch!

Zweiter Schritt: Google Books

Beginnen wir von Anfang an: In Google Books gebe ich den wahrscheinlichsten Suchbegriff ein: „blinde Königinnen“ (Tipp von uns: Solltest du in Deutsch nicht fündig werden, versuche es auf Englisch oder in einer anderen Sprache.). Sofort erhalte ich ein paar Ergebnisse:

Es scheint, als sei dieser Geschichtentyp in Indien und Südasien beliebt und käme nur in wenigen anderen Ländern vor.
Ich suche auch auf Spanisch nach dem Begriff („blinde Königinnen“), denn die ursprüngliche Frage stand in Zusammenhang mit Lateinamerika. Ich bekomme einen Treffer für „reinas ciegas“ in der Spanischen Ausgabe des ATU index.

Dritter Schritt: Geschichtentypusnummer

Selbst wenn der Spanische Index keine Resultate erzielt hätte, wäre ich auch in der Lateinamerikanischen Volksmärchen Sammlung ganz am Ende in den Anmerkungen fündig geworden: ATU 462, The Outcast Queens and the Ogress Queen (Die ausgestoßene Königin und die menschenfressende Königin).
Hier steht auch, dass dieser Typus „weit verbreitet in Indien, aber nicht in Europa oder in Lateinamerika“ sei. Es gibt jedoch einen weiteren Hinweis zu einer chilenischen Version, die in Hansens Geschichtentypen Katalog vermerkt ist (The types of the folktale in Cuba, Puerto Rico,the Dominican Republic, and Spanish South America).

Vierter Schritt: Geschichtentypus Kataloge

Ich suche zunächst im Hansen Typus Katalog, da er sich auf Zentral- und Südamerika fokussiert. Leider ist der Typus 462 nicht aufzufinden; ich finde den Geschichtenverweis von oben unter Typus 455, in welchem eine eifersüchtige Königin den Nichten ihres Mannes das Augenlicht nahm. Es gibt kein Kind und auch kein Gefängnis, sie werden schließlich von ihrem Bruder mit Löwenmilch gerettet (trotzdem eine interessante Geschichte). Löwenmilch…

Fünfter Schritt: Die grundsätzliche Handlung

In der chilenischen Version (ursprünglich aus diesem Buch) blendet ein grausamer König seine Königinnen, eine nach der anderen und wirft sie ins Gefängnis. Sechs Königinnen essen ihre Babies vor Hunger, nur der ersten gelingt es ihren Sohn heimlich am Leben zu erhalten. Der Junge wird größer, findet schließlich einen Weg aus dem Kerker heraus und sorgt mit Früchten aus dem Garten dafür, dass die sieben Königinnen am Leben bleiben. Sie lieben ihn alle. Eines Tages wird er jedoch vom Gärtner erwischt und zum König gebracht (der in der Zwischenzeit eine achte grausame Königin geheiratet hat). Der König findet gefallen an ihm und ohne zu wissen, wer der Junge ist, gibt er ihm freie Herrschaft über den Palast. Der Junge bringt seinen Müttern immer noch heimlich zu essen. Eines Tages entscheidet die grausame Königin, ihn loszuwerden. Sie gibt vor, krank zu sein und fragt nach Löwenmilch. Mit den Ratschlägen seiner Mutter gelingt es ihm. Als nächstes fragt die Königin nach einem singenden, tanzenden Schloss; der Junge geht zu einer verzauberten Stadt, spielt dort Gitarre und mit Hilfe einer Zauberin findet er das kleine Schloss, so wie as Wasser, das sehend macht, Kerzen, die Menschenleben sind und ein Schwein, das das Leben der grausamen Königin ist. Er tötet das Schwein, heilt seine Mütter, der König heiratet wieder die erste Königin und sie leben glücklich bis an ihr Lebensende.
(Ich bin ein bisschen angefressen, dass der König einfach so davon kommt.)

Sechster Schritt: Varianten

In der italienischen Version (von den Abruzzen) gibt es drei Königinnen (verheiratet mit drei Königen), geblendet von einer eifersüchtigen Amme und in den Bergen ausgesetzt. Sie essen ebenso ihre Babies, nur das Jüngste wird gerettet. Als er zu seinem Vater kommt, schickt ihn die Amme los, eine Prinzessin zu retten. Mit der Hilfe seiner Mutter gelingt es ihm und die Amme wird getötet.

In der indischen Version von Joseph Jacobs trifft der König auf der Jagd ein bezauberndes Mädchen, die ihn aber nur heiraten will, wenn er seine sieben Königinnen blendet – was er tut. Eine der sieben Königinnen hat einen Sohn, der einen Weg aus dem Kerker findet und die Königinnen mit Nahrung versorgt. Der König findet ihn schließlich und nimmt ihn bei sich auf. Der Junge verärgert die böse Frau und sie schickt ihn zu ihrer Mutter, damit er getötet werden soll. Auf dem Weg jedoch heiratet er eine Prinzessin (die nur einen Mann mit „sieben Müttern“ heiraten will). Diese schreibt den Brief, den er bei sich trägt vom Todesurteil zur Belohnung um. Der Junge bekommt die Augen seiner Mütter zurück (jedenfalls fast: ein Auge fehlt), dazu eine Kuh, die endlos Milch gibt, nie endender Reis und alles ist am Ende gut. Musik spielt auch eine Rolle in dieser Geschichte.

In der Version aus Dekkan (Indien) verführt ein gerissenes Mädchen den König und beschuldigt seine sieben Frauen, sein Lieblingspferd und -Hund getötet zu haben. Die Königinnen werden geblendet und verbannt. Als sie ihre Kinder gebären, werden diese von Wölfen gefressen, bis auf das Jüngste. Er kommt schließlich an den Hof des Vater und die böse Königin versucht ihn umzubringen, indem sie ihn zu ihrem Bruder, einem Zauberer, mit einer todbringenden Nachricht schickt. Ein weiser Mann hilft ihm jedoch. Der Junge tötet einen Papagei, der die Seele des Zauberers war und macht einen Zaubertrank, um seine Mütter zu heilen. Und wieder einmal kommt der König ungestraft davon.

Die Version aus Punjabi (Indien) ist der von Joseph Jacobs sehr ähnlich. Das sagt bereits alles.

Siebter Schritt: Der ATU Index

Laut ATU ist der Typus 462 nicht besonders verbreitet: Es gibt hauptsächlich Varianten aus Indien, Südasien, Ostasien (China, Nepal, Laos), dem Mittleren Osten, Spanien und Katalonien und Chile. Ebenso in der Roma Tradition, was auch erklären würde, wie diese Geschichten in den Westen gewandert sind. Die einzigen Ausreißer sind Island und Kanada.
Der ATU beschreibt auch Motive innerhalb des Folktale Typus. Es gibt kein spezifisches Motiv für diese Geschichte, aber es gibt eines (L71) für „Nur die Jüngste der Gruppe gefangener Frauen lehnt es ab, ihr Neugeborenes zu essen.“ Die Referenz verweist auf den indischen Thompson-Balys motif index.
Nachdem so vielen Verweise nach Indien und Südasien zeigen, schaue ich auch noch im Types of Indic Oral Tales Index nach. Das ist der folktale Index für Südasien (Indien, Pakistan, Sri Lanka). Dieser zeigt eine lange Liste an Varianten auf. Die müsste ich alle durcharbeiten, wenn ich tiefer graben wollte.

Schlüsse und Mutmaßungen

Dieser Geschichtentyp scheint in Südasien seinen Ursprung zu haben. Vermutlich wurde die Geschichte von den Roma Richtung Westen bis nach Spanien getragen und kam dann mit der Kolonisierung nach Südamerika. Da ist auch etwas deutlich Himmlisches in der Punjabi Version – die sieben Königinnen, eine halbblind (die Pleiaden?), der endlose Milchfluss (die Milchstraße?), die unzählbaren Reiskörner (Sterne?)…
Vielleicht ist es nur meine Imagination. Trotz allem. Ein faszinierendes Wunderland.

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